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Interview mit Magret Rasfeld zum Thema „Frei-Day“

By 12. Juli 2021Allgemein

Brauchen alle Schulen einen Frei Day, Frau Rasfeld?

Nur wenige Berliner Schulleiterinnen sind international so gefragt wie Margret Rasfeld. Mehr denn je kämpft sie für eine neue Lernkultur

Als Schulleiterin ist Margret Rasfeld fast schon Legende. Sie gründete und prägte die Evangelische Schule Berlin Zentrum, die als eine der innovativsten Schulen im deutschsprachigen Raum gilt. Seit 2016 ist Rasfeld im Unruhestand und reist als begeisternde Speakerin durch das Land. Gerade schreibt sie an einem Buch über den sogenannten „Frei Day“. Wir sprechen Frau Rasfeld über Video. Während des Gesprächs trägt sie uns mit ihrem Laptop durch verschiedene Zimmer, die mit alten Möbeln und großen Bücherregalen eingerichtet sind.

Frau Rasfeld, sollte jede Schule einmal pro Woche einen Projekttag einführen – oder wie es bei Ihnen heißt: einen Frei Day?
Ja, denn in den meisten Schulen haben wir bisher leider keinen Freiraum für Zukunftsfragen und dafür, dass junge Menschen ins Handeln kommen. Dabei ist es ihr Recht und auch die Forderung der UNESCO – es ist Partizipation pur! Das sollte nicht den Schülern vorbehalten sein, die einen Lehrer haben, der so etwas ermöglicht. Deshalb brauchen alle Schulen einen Frei Day!

Was macht den Frei Day aus? Was genau passiert da dann?
Konkret bedeutet der Frei Day mindestens vier im Stundenplan fest verankerte Stunden, in denen an Projekten gearbeitet wird – und zwar jahrgangsübergreifend und im bewussten Verzicht auf Ziffernoten. Die Themen kommen von den Kindern und Jugendlichen und orientieren sich an den 17 Nachhaltigkeitszielen, den sogenannten Sustainable Development Goals (SDGs) der UN. Da geht es zum Beispiel darum, Armut und Hunger zu bekämpfen, für hochwertige Bildung und Gleichstellung zu kämpfen, für ausreichend Wasser und saubere Energie, für nachhaltiges Produzieren und Konsumieren. „Learn for our planet, act for sustainability“ ist die Grundidee des Frei Day. Erist dazu da, sich mit den großen gesellschaftlichen Herausforderungen zu beschäftigen. Beispielsweise hat sich eine Berliner Gruppe von Kindern das erste globale Ziel vorgenommen „Keine Armut“. Sie haben einen sehr professionellen Brief an die Schulleitung geschrieben, damit er an die Eltern und Lehrer verteilt wird. In dem Brief stand, dass für die Obdachlosen im Bezirk Sachen gesammelt werden. Sie haben so viel zusammenbekommen, dass die ganze Klasse am Ende mit Säcken losgehen musste.

Wie funktioniert der Themen- und Gruppenfindungsprozess?
Es gibt einen Kick-off zur Inspiration, bei dem viele Kinder und Jugendliche zum ersten Mal von den Nachhaltigkeitszielen hören. Sie sind zwar oft nachhaltigkeitsaffin, wissen aber nichts von solchen Programmen und glauben nicht mehr daran, etwas bewirken zu können – das ist das Hoffnungsdefizit unserer Gesellschaft. Wenn die Kinder die Materialen über die SDGs sehen, sind sie oft begeistert über einen solchen Weltrettungsplan und wollen mitmachen. Dann finden sich nach Interessenslagen die Gruppen.

Muss der Frei Day an einem Freitag stattfinden?
Nein, der Freitag eignet sich jedoch gut, weil es der letzte Schultag ist vor dem Wochenende, aber der Frei Day kann auch auf jeden anderen Wochentag fallen.

Sie sind Mitbegründerin der Initiative Schule im Aufbruch. Was ist deren Mission?
Schule im Aufbruch ist 2012 gegründet worden, um Schulen zu ermutigen, von sich aus in die Veränderung zu gehen und nicht auf Anweisungen aus dem Kultusministerium zu warten. Das Projekt ist aus der Evangelischen Schule Berlin Zentrum entstanden, die ich bis 2016 geleitet habe. Dort arbeiten wir mit neuen Lernformaten, die „Verantwortung“ oder „Herausforderung“ heißen. Auch der Frei Day ist aus einem wöchentlichen Projekttag entstanden, den wir dort hatten. Dabei geht es immer darum, das Kind und nicht den Stoff ins Zentrum zu stellen.

Durch Corona ist das projektorientierte Lernen im Aufwind. Auch sehr konventionelle Schulen sahen sich auf einmal gezwungen, ganz anders zu arbeiten. Spielt die Pandemie Ihrer Arbeit in die Hände?
Ja, weil der Ruf, dass Schüler anfangen, selbstständig zu lernen, jetzt immer lauter wird. Aber auch Fridays for Future und verwandte Bewegungen spielen uns in die Hände.

Wir haben schon über Elemente einer neuen Lernkultur gesprochen, aber was ist eigentlich „die alte Lernkultur“, die Sie gerne hinter sich lassen würden?
Dass alle Klassen im Gleichschritt voranschreiten. Dass ein Vorrat von Wissen eingetrichtert wird, das die Kinder dann für einen Test wieder ausspucken müssen. Dass es ein Fächerkorsett gibt statt fächerübergreifendes Projektlernen. Dass in 45-Minuten-Einheiten gelernt wird. Man fragt nicht nach den Themen, die die Kinder wirklich interessieren. Ständige Kontrolle, Benotung und Bewertung gibt es auch zu viel. Noten gehören zugunsten von hilfreichen, personalisierten Feedbacks abgeschafft. Tests, die nur den Stoff abfragen, sind Old School. Wir müssen andere Formate finden, in denen Schüler zeigen können, was sie gelernt haben.

Sie haben einmal vorgeschlagen, dass die Schulen vier Wochen auf ihren Kopierer verzichten sollten.
Durch Kopierer wird viel zu viel mit schnöden Arbeitsblättern gearbeitet, das ist eine echte Unkultur. Manche Kinder kriegen 18 Arbeitsblätter am Tag. Am ärmsten sind die Kinder dran, die unordentlich sind. Denn am Ende werden oft die Mappen eingesammelt und bewertet – dann haben die Unordentlichen vielleicht nicht alle Arbeitsblätter abgeheftet und kriegen eine schlechte Note, das ist wirklich sinnlos. Es ist auch einfach eine totale Unterforderung, diese Lückentexte auszufüllen, wir veröden die Kinder. Deswegen sollten wir den Kopierer in der Schule ganz abschaffen. Dann muss man sich etwas anderes überlegen, vielleicht kommt da etwas Kreatives bei heraus. In der Corona-Krise haben wir ja gesehen, wie kreativ die Lehrer sein können …

Was sind weitere Elemente der neuen Lernkultur?
Das Lernen im Leben und nicht nur in der Schule. Für mich gehören zur neuen Lernkultur immer Musterbrüche, weil es so wahnsinnig schwer ist, aus der alten Lernkultur herauszukommen, auch für die Eltern. Alle haben diese veralteten Muster von Schule im Kopf. Man kann da nicht einfach den Schalter umlegen. Da gehört das jahrgangsgemischte Lernen dazu, das Einteilen der Kinder in Jahrgangskohorten ist künstlich. Es gehört dazu, Eltern und alle möglichen Experten zu befragen, die Umgebung der Schule als Lernort zu nutzen, die Nachbarschaft und die ganze Stadt als eine Art großer Bildungslandschaft zu verstehen. Das Gleiche gilt für die Natur: Rausgehen, staunen und entdecken ist die Devise.

Glauben Sie denn, alles mit Spaß und Begeisterung beibringen zu können? Ist das immer möglich? Grundlegende Mathematik und Rechtschreibung werden vor allem durch diszipliniertes Üben und Wiederholen gelernt.
Aus neurophysiologischer Perspektive ist es so, dass alles, was ich mit einem schlechten Gefühl mache, sich nicht gut im Gehirn verankert. Das heißt, das Wichtigste ist zunächst, einen Potenzialblick auf die Kinder zu haben. Von Mathe kennen wir ja folgendes Phänomen: Die Kinder sagen „Ich kann kein Mathe!“, glauben das auch irgendwann und jede Fünf in Mathe ist dann wie eine Bestätigung für das Gehirn. Ein Teufelskreis, der seinen Ursprung hat in einem Lehrerblick, der am Defizit orientiert ist. Üben ist natürlich auch wichtig, aber nicht dieses langweilige Wiederholen.

Manchmal hat man den Eindruck, die Reformpädagogik steht dem nötigen Wiederholen im Weg. Wenn ein Wort falsch geschrieben wird, muss man dieses Wort etwa zehn Mal schreiben. Kann man hier wirklich auf Wiederholung verzichten?
Wenn ich als konsequente Lehrerin sehe, dass ein Kind anfängt, irgendetwas hinzuschmieren, kann ich sagen: Das kannst du besser, so nehme ich dir das nicht ab! Und schon liefern viele Kinder etwas Besseres ab. Ich halte nicht viel davon, zehn Mal irgendetwas abzuschreiben. Was Mathe angeht, glaube ich, dass Kinder die Grundlagen viel schneller und einfacher lernen würden, wenn man mit ihnen Dinge bauen würde, für die sie die Mathematik brauchen, ein Baumhaus zum Beispiel. Da ist dann Begeisterung im Spiel. In Kanada zum Beispiel sind Schüler nach vier Jahren Grundschule in Muttersprache und Mathematik mindestens auf Kompetenzstufe drei. Das schaffen wir nicht – hier haben wir viele Bildungsverlierer. Und wie macht Kanada das? Man arbeitet viel in Teams, nur in einem Teil des Unterrichts wird Grundwissen vermittelt, der Rest besteht aus Entrepreneurship und Projekten.

Sie wollen generell, dass Schüler mehr Erfahrungen sammeln und sich selbst im Handeln erfahren können. Zum Beispiel durch die Unterrichtsformate „Herausforderung“ und „Verantwortung“, die sie geschaffen haben.
Ja, wir sind mit unserem verantwortungslosen Lebensstil an die Grenzen dieses Planeten gestoßen und müssen umdenken. Verantwortung lernen wir aber nicht aus Büchern. Wir müssen dafür Orte, Zeiten und Räume in den Schulen einrichten. Das gibt es nun in ca. 400 Schulen deutschlandweit. Das Fach Verantwortung heißt: Die Schüler suchen sich selbstständig eine soziale oder ökologische Aufgabe. Sie können in der Kita arbeiten, in Altenheimen helfen oder auf einem Bio-Bauernhof. Die Lehrer besuchen dann die Schüler und finden oft ganz andere Kinder vor, als sie gedacht hätten, das gilt vor allem oft für Jungs, die oft störenund dann plötzlich konzentriert arbeiten.

Und was ist das Fach „Herausforderung“?
Auch hier suchen Schüler sich Projekte. Ursprünglich war meine Idee, dass sie dabei von Lehrkräften begleitet werden. Innerhalb einer Stunde entwickelte sich das dann dazu, dass kleine Gruppen völlig selbstständig großartige Pläne entwickelt haben, wie in Frankreich angeln oder in Polen paddeln gehen. Abends klingelte dann bei mir das Telefon und es hieß von den Eltern „Paddeln in Polen? Spinnen Sie denn jetzt völlig, Frau Rasfeld?“ Dann habe ich schnell einen Elternabend einberufen und konnte die Eltern überzeugen.

Wie läuft das Fach ab?
Die Kinder bereiten sich ein halbes Jahr vor, haben dann drei Wochen für die Herausforderung und dürfen nicht mehr als 150 Euro ausgeben. Wir hatten schon Wanderungen in Bayern, Fahrradtouren, Floßbau, manche sind sogar ins Kloster gegangen. „Weg und überleben!“ ist das Prinzip. Es ist das Lieblingsfach aller Schüler. Es ist übrigens immer eine Person über 18 Jahren dabei. Oft sind das angehende Lehrerinnen oder Sozialarbeiter …

Drei Wochen. Das ist ganz schön lang!
Es ist genau richtig! Nach zwei Wochen haben viele keine Lust mehr, wollen nach Hause. Dann durchzuhalten, ist eine wirklich tolle Erfahrung, die Rückmeldung kriege ich auch von den Eltern. Man lernt mit Unsicherheit umzugehen. Mit 150 Euro kann man ja nicht immer auf dem Campingplatz nächtigen. Da muss man dann bei fremden Leuten anklopfen und fragen, ob man im Garten schlafen kann. Die Kinder erleben die tollsten Sachen, sie kommen oft zurück und sagen: „Ich hätte nie gedacht, wie freundlich die Menschen sind.“ Sie lernen zu scheitern und garantiert auch, dass das Leben nicht nach Plan läuft.

Das Gespräch führten Friedrich Conradi und Eva Corino .

Quelle: Berliner Zeitung, Nr. 150, Freitag, 02. Juli 2021 – Seite 18